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Die deutsche Status-quo-Diktatur

Jubel vor dem Reichstag am 3. Oktober 1990 zur Wiedervereinigung: Jetzt fehlt nur noch eine Verfassung Jubel vor dem Reichstag am 3. Oktober 1990 zur Wiedervereinigung: Jetzt fehlt nur noch eine Verfassung
Jubel vor dem Reichstag am 3. Oktober 1990 zur Wiedervereinigung: Jetzt fehlt nur noch eine Verfassung
Quelle: dpa/A3503 Jörg Schmitt
Befindet sich Deutschland noch in einer Demokratie? Was können Wahlen in einem Land raffiniert verwobener Interessen überhaupt bewirken? Gedanken eines so verzweifelten wie selbstbewussten Bürgers zur deutschen Status-quo-Diktatur, inklusive einer kleinen Litanei der politischen Tatenlosigkeit.

Eine seltsame Stimmung herrscht in Deutschland, ein Art rasender Stillstand. Es fällt schwer zu beschreiben, was nicht in Ordnung ist. Die Unzufriedenheit und Unsicherheit der Bürger, die in der Luft liegen, finden keinen Punkt, an dem sie sich kristallisieren, von wo aus sie sich artikulieren und zur Wehr setzen könnten. Denn: zur Wehr wogegen? Es scheint eine neue Situation zu sein, die vielleicht mit der Globalisierung, den Medien oder einfach mit uns selbst als verwöhnten und zugleich überforderten Menschen des 21.Jahrhunderts zu tun hat. Niemand kann sich daran erinnern, so etwas schon einmal erlebt zu haben.

Doch all das gab es schon einmal. Vor sehr langer Zeit. Der Althistoriker Christian Meier hat dieses seltsame Phänomen als eine Krise ohne Alternative bezeichnet und erstmals in den Jahren des Niedergangs der römischen Republik verortet: „Je mehr vonseiten des Senats – oder auch von anderer Seite – im Gemeinwesen reformiert wurde, umso schlimmer wurde es. Denn dann wurden alle möglichen Kräfte wach, weil sie sich plötzlich darin, wie sie sich in dem Gemeinwesen eingerichtet hatten, gestört sahen. ... Das heißt, es fehlte an der gesellschaftlichen Kraft, die die Disposition gehabt hätte, ausgehend von handfesten Interessen und Meinungen die Dinge in eine neue Richtung zu treiben, um in einem Bewusstseinsbildungsprozess schließlich als politische Kraft alternativen Gedanken Resonanz, Materie, Intensität und Richtung zu geben.“

Es kam nicht zur notwendigen Zuspitzung der Krise, die es dem politischen System ermöglicht hätte, sich im Zuge der Problemverarbeitung kontinuierlich weiterzuentwickeln. „Kurz: Man kam nicht auf die Idee, an der überkommenen Ordnung etwas zu verändern.“ Diesen Knoten durchschlug Julius Cäsar im Jahr 46v.Chr. mit der Errichtung der Diktatur.

Die auffälligen Ähnlichkeiten machen es verständlich, dass Christian Meier mit dem Szenario der Krise ohne Alternative schon 1997 die vage gefühlte Malaise der Bundesrepublik erklären wollte. Doch seine Idee von der Krise ohne Alternative errang nur unter Intellektuellen einige Prominenz. Sie konnte aber weder handfeste Interessen in eine Richtung treiben noch den Konflikt zuspitzen und schon gar nicht eine neue politische Kraft bilden.

Eine Erklärung wäre, dass die Krise einfach noch nicht reif genug war. Heute befänden wir uns demnach in ihrem fortgeschrittenen Stadium, und die Symptome wären an Zahl und Intensität gewachsen. Dazu könnte man neben der unaufhaltsamen Wucherung der Kosten in den Sozialversicherungen, der Explosion der öffentlichen Schulden und der Innovations- und Reproduktionsverweigerung inzwischen auch die Verschlimmerungserwartung zählen, die vom Begriff „Reform“ ausgeht.

Die moderne Expertendemokratie wird schon länger von einer an sich harmlosen Inkompetenz-Kompensations-Kompetenz am Laufen gehalten, wie der Philosoph Odo Marquard das einst so schön nannte. Doch allmählich haben die viel gefährlicheren Reform-Folgeschäden-Begrenzungsreformen dieser Scheinexperten das Vertrauen der Bürger erodiert, das für jede demokratische Kultur lebenswichtig ist.

Es gibt inzwischen beunruhigend viele Stimmen, die aus unterschiedlichen Richtungen eine Verschlechterung der Lebens-, Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen beklagen, ein ungehemmtes Wuchern der Verwaltungen und darunter das Verschwinden von Initiative, Mut und Zuversicht.

Doch es gibt noch eine andere Möglichkeit, den Verlauf der Krise ohne Alternative zu beschreiben. Vielleicht ist die Krise ohne Alternative schon vorbei – und wir sind bereits mitten in einer Diktatur! Allerdings wäre das tatsächlich eine historisch neue Form. Kann eine Demokratie überhaupt eine Diktatur sein? Herkömmliche Diktaturen, vor allem die verfassungswidrigen, sind wie auch immer unangemessene Versuche zur Lösung sozialer, wirtschaftlicher oder politischer Probleme durch eine radikale Veränderung des institutionellen Rahmens.

Sie haben meistens sogar einen revolutionären Charakter. Könnte es eine dezidiert antirevolutionäre Diktatur in einer Demokratie geben? Sie würde ausschließlich die Erhaltung der bestehenden öffentlichen Ordnung trotz aller ungelösten und in ihr unlösbaren Probleme betreiben. Das Postdemokratisch-Diktatorische an ihr wäre nicht nur das Fehlen jeglicher politischer Kräfte, die sich einen solchen Systemwandel ernsthaft zum Ziel setzen, sondern vielmehr noch die Komplizenschaft aller etablierten Parteien, die solche Bestrebungen bewusst vermeiden oder sogar unterdrücken.

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Das alles ist der Fall in der Bundesrepublik, und den Pakt gegen den Wandel, gar eine Erneuerung des politischen Systems haben ausnahmslos alle im Bundestag vertretenen politischen Parteien mit dem öffentlichen Dienst geschlossen. Dass die politischen Institutionen, der Länderföderalismus, das Verfassungsgericht, das Parlament, die Parteien, das Beamtentum und die Politiker selbst ein wesentlicher Bestandteil des Problems sind, das wird von den etablierten politischen Kräften mit aller Gewalt verdrängt.

Die Bürger spüren das jedoch, und es lässt sie immer mehr zweifeln, ob Wahlen überhaupt noch das richtige Mittel sind, um in dieser Situation am politischen Prozess noch teilzunehmen. Dieser Zustand verdient den Namen einer Status-quo-Diktatur. Hier eine kleine Litanei der politischen Tatenlosigkeit:

Das postdemokratische Prinzip der Status-quo-Diktatur besteht darin, dass es egal ist, wen man wählt, denn es wird sich nach der Wahl nichts ändern. Links und Rechts sind nur noch die schillernden Farben ein und derselben politischen Fata Morgana. Doch an den Rändern, da franst die Bindungskraft der Status-quo-Ideologie langsam aus. Martin Sonneborns Partei Die Partei, Initiativen wie Willi Weise, die 299 Direktkandidaten gegen die etablierten Parteien antreten lassen wollen, die Piraten-Partei und natürlich Horst Schlämmer, all das ist viel mehr als politisches Kabarett, sondern akute Symptome eines schleichenden Legitimationsverlusts, einer Erosion der demokratischen Substanz in den wichtigsten Repräsentativorganen des Staates.

Wie kommen wir aus dieser hoffnungslosen Situation heraus? Es ist eine legale, demokratische Revolution nach Artikel148 des Grundgesetzes, deren Ziel eine neue Verfassung für Deutschland ist, und das bedeutet nicht weniger als das Abreißen der alten und die gleichzeitige Gründung einer neuen Republik. Die Römer konnten sich einen Verfassungswechsel noch nicht vorstellen – Meier schreibt: „Man hatte nicht eine Verfassung, sondern man war eine Verfassung“ –, wir aber schon, wenn wir es nur wollen.

Carlo Schmid, einer der Väter des Grundgesetzes, machte es am 6.Mai 1949 im Parlamentarischen Rat so deutlich wie nur möglich zu unserer Aufgabe, ganz unabhängig von der Wiedervereinigung eine neue Verfassung und die nächste Republik in Deutschland vorzubereiten. „Auch der Beitritt aller deutschen Gebiete kann dieses Grundgesetz nicht zu einer gesamtdeutschen Verfassung machen.

Die neue, die echte Verfassung unseres Volkes wird also nicht im Wege der Abänderung dieses Grundgesetzes geschaffen werden, sie wird ‚originär' entstehen, und nichts in diesem Grundgesetz wird die Freiheit des Gestaltungswillens unseres Volkes beschränken, wenn es sich an diese Verfassung machen wird.“ Die Beraubung genau dieser Freiheit ist das Wesen und das Ziel unserer Status-quo-Diktatur.

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